Geb. St. Gallen / CH 1907
FLUCHT 1936 SPANIEN INTERN. BRIGADE THÄLMANN FLUCHT 1938 FRANKREICH DEPORTIERT 1939 DACHAU FLUCHTVERSUCH 23.1.1939
ERMORDET 11.2.1939 |
Kanzleistr. 7 heute Foto: W. Mikuteit |
Stolperstein für Louis ÜBRIG
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Louis ÜBRIG, Marseille 1938
Louis Gebhard Übrig wurde am 22. April 1907 in St. Gallen geboren. Seine Eltern waren Louis Friedrich Übrig und Maria, geb. Milz, und wohnten in der Buchstraße 24. Sein Vater stammte aus Güsten bei Bernburg in Anhalt, war Deutscher und wohnte seit 1902 in St. Gallen. Somit waren Louis Übrig und seine 3 jüngeren Geschwister ebenfalls Deutsche. Louis Übrig erlernte den Beruf des Malers. 1922 wurde er Mitglied der Sozialistischen Jugend in der Schweiz. Nach seiner Teilnahme an einer von der kommunistischen Partei organisierten Antikriegs-Demonstration im Jahre 1929 wurde er aus der Schweiz ausgewiesen. Er ging nach Dessau, der anhaltinischen Landeshauptstadt, erwarb hier die deutsche Staatsbürgerschaft und trat in die KPD ein.
Von Dessau übersiedelte er Anfang der 30er Jahre nach Berlin, wo er 1933 wegen kommunistischer Betätigung fünf Wochen in Untersuchungshaft saß. Nach seiner Freilassung kehrte er mit falschen Papieren in die Schweiz zurück. Die Schweizer Kommunisten hielten ihn zunächst für einen Gestapo-Spitzel, nachdem sich dieser Verdacht aber als haltlos erwiesen hatte, wurde er Ende 1933 in die Kommunistische Partei der Schweiz aufgenommen.
Anfang Februar 1934 übersiedelte Louis Übrig nach Konstanz; einige Wochen später zog er nach Stuttgart. Möglicherweise engagierte er sich dort für die verbotene KPD. Denkbar ist, dass er dort für die „Transportkolonne Otto“ tätig war. Die „Transportkolonne Otto“ war eine konspirative Organisation, die kommunistische Broschüren und Zeitungen von der Schweiz nach Konstanz schmuggelte. Sie war von Willi Bohn, dem Chefredakteur der kommunistischen „Süddeutschen Arbeiterzeitung“ in Stuttgart gegründet worden. Übrig war wahrscheinlich mit den Verhältnissen im deutsch-Schweizer Grenzgebiet gut vertraut. In Konstanz waren mehrere Kommunisten in dieser Organisation aktiv wie z.B. Ferdinand Obergfell, Alfons Beck, Alois Zollner, Hans Stöhr oder Paul Raddatz. Mit der Verhaftung von Willi Bohn im Oktober 1935 kam dieser Schmuggel dann weitgehend zum Erliegen.
Ende Januar 1936 kehrte Übrig von Stuttgart nach Konstanz zurück und wohnte vier Wochen lang zur Untermiete in der Kanzleistraße 7. Diese Adresse war sein letzter ordentlich gemeldeter Wohnsitz. Ende Februar 1936 verließ er Konstanz, ohne sich polizeilich abzumelden. Wohin er ging, ist nicht bekannt. Vermutlich tauchte er unter, um seiner Verhaftung durch die allgegenwärtige Gestapo zu entgehen. Mit dem Putsch von General Franco im Juli 1936 in der spanischen Kolonie Marokko und dem gleichzeitigen Aufstand mehrerer Generale auf dem spanischen Festland gegen die demokratisch frei gewählte spanische Volksfront-Regierung („Frente popular“) begann in Spanien der Bürgerkrieg. Als Reaktion auf diesen faschistischen Putsch beschloss das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (Komintern) am 27. September 1936 die Aufstellung einer Internationalen Brigade. Hieraufhin organisierten die Kommunistischen Parteien in verschiedenen Ländern, darunter auch in Deutschland, die Rekrutierung von Freiwilligen. Solche „Werbestellen für Freiwillige nach Rotspanien“ gab es auch im Raum Konstanz. Louis Übrig meldete sich bei einer dieser verdeckt agierenden Werbestellen. Zuerst aber musste Übrig nach Paris, wo sich das zentrale Organisationsbüro für die Spanienkämpfer befand. Wahrscheinlich nahm Übrig die Route über Basel nach Paris. Nach einer gesundheitlichen und ideologischen Überprüfung, der sich alle Freiwilligen unterziehen mussten, ging es dann mit Hilfe französischer Kommunisten auf Schleichwegen über die „grüne“ Grenze nach Spanien. Louis Übrig war 29 Jahre alt, als er am 26. Dezember 1936 in Albacete, dem Hauptquartier der Internationalen Brigaden, eintraf. Albacete liegt etwa 200 km südöstlich von Madrid. Nach einer militärischen Ausbildung wurde er dem Ernst-Thälmann-Bataillon zugeteilt, dem Kern der XI. Internationalen Brigade, in dem vor allem Deutsche, Österreicher und Schweizer dienten. Wahrscheinlich traf Übrig in Albacete auch die Konstanzer Friedrich Held, Emil Götschl, Adolf Probst und Jakob Stoll. Beim Eintritt in die Internationalen Brigaden musste sich Übrig wie übrigens alle Brigadisten verpflichten, bis zum Ende des Krieges für die Spanische Republik zu kämpfen. Der Dienst in den Internationalen Brigaden war hart, dabei wurden die Soldaten vom kommunistischen Geheimdienst überwacht. Wer Schwäche zeigte, Anzeichen von Kampfmüdigkeit oder gar Absichten zur Desertion, kam in ein Umerziehungs- und Straflager. In den Internationalen Brigaden wie auch bei den Faschisten galt im Übrigen das spanische Militärrecht aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Wer zwölf Monate Dienst hinter sich hatte, wurde de jure als spanischer Staatsbürger betrachtet. Bei den verlustreichen Kämpfen zwischen Republikanern und Faschisten am Fluss Jarama südöstlich von Madrid wurde Louis Übrig am 14. Februar 1937 schwer verwundet. Im Spital „Casa Roja“ in Murcia wurde er gesundgepflegt. Nach seiner Gesundung machte er in Albacete im August 1937 die Ausbildung zum Offizier und war danach Ausbilder in Madrigueras in der Nähe von Albacete.
Mitte August 1938 desertierte Louis Übrig, wie ein Dokument des republikanischen Verteidigungsministeriums beweist, von seinem Ausbildungsbataillon „Dos Aguas“. An der französischen Grenze wurde er von Franco-Soldaten gefangengenommen. Wenige Tage später gelang ihm mit seinem Schweizer Kameraden Paul Müller die Flucht aus dem Gefängnis. In einem längeren Bericht in der „Basler Arbeiterzeitung“ vom 6. und 7. Oktober 1938 kolportierte Louis Übrig allerdings die Version, dass er mit seinem Schweizer Kameraden bei einem Erkundungsgang an der Front in der Nähe von Tortosa von den Faschisten gefangengenommen worden sei. Nach einigen Tagen sei ihnen dann die Flucht aus dem Gefängnis gelungen. Wahr an beiden Versionen ist, dass sich Übrig und Müller bis zur etwa 35 km entfernten Mittelmeerküste durchschlugen. Mit einem herrenlosen Fischerboot versuchten beide die französische Küste zu erreichen. Sechs Tage und sechs Nächte trieben sie ohne Kompass und Lebensmittel auf dem Meer, ehe sie von dem französischen Frachter „Djebel Aures“, der von Oran (Algerien) nach Marseille unterwegs war, gerettet wurden.
Der Frachter "Djebel Aures", der Louis ÜBRIG
Am 29. August 1938 frühmorgens gingen sie erschöpft in Marseille von Bord und erregten mit ihrer Fluchtgeschichte beträchtliches Aufsehen. Zahlreiche französische, aber auch Schweizer Zeitungen berichteten über ihre abenteuerliche Flucht. |
"Zwei Milizionäre aus Franco-KZ
Besonders ihre öffentliche Ankündigung, nach Spanien zurückkehren und weiter gegen Franco kämpfen zu wollen, brachte ihnen zweifellos Sympathien ein. Dazu muss man wissen, dass linke Ideen in Marseille äußerst populär waren. Seit 1935 war ein Sozialist Bürgermeister der Stadt. 1936 hatten in Marseille die Hafenarbeiter wochenlang für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Und bis September 1938 hatte die Volksfrontregierung unter Ministerpräsident Leon Blum die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg unterstützt.
Louis ÜBRIG und Paul Müller
Mitte September 1938 stellte Louis Übrig brieflich beim Polizeidepartement St. Gallen den Antrag, seine Mutter in St. Gallen besuchen zu dürfen. Er wolle sich bei ihr erholen, weil er, wie er schrieb, „schwere Erlebnisse“ hinter sich habe. Seinem Antrag wurde stattgegeben. Er erhielt eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 27. Oktober. Allerdings durfte er das Stadtgebiet nicht verlassen und musste sich jeden Montagvormittag und Samstagnachmittag bei der Kantonspolizei melden. Am 28. Oktober 1938 verließ Louis Übrig St. Gallen, wie ein Polizeibeamter zu Protokoll gab, um mit der Bahn über Zürich und Basel nach Frankreich zu fahren. Ob er wirklich nach Frankreich wollte, erscheint mehr als fraglich. In Paris jedenfalls konnte er nicht auf Unterstützung hoffen, da Anfang Oktober 1938 das Solidaritätskomitee für die deutschen und österreichischen Spanienkämpfer in Paris über die Desertion von Übrig und Müller informiert worden war. Wahrscheinlich blieb Übrig in Basel, wo es ebenfalls eine Vielzahl von kommunistischen Emigranten gab. Ende des Jahres 1938 beging Louis Übrig eine Unvorsichtigkeit, die ihn die Freiheit und das Leben kosten sollte. Beim illegalen Grenzübertritt von Kreuzlingen nach Konstanz wurde er auf deutscher Seite von Zöllnern verhaftet. Das genaue Datum seiner Festnahme in Konstanz ist nicht bekannt. Nach seiner Festnahme wurde er wahrscheinlich in das Konstanzer Landgerichtsgefängnis eingeliefert. Am 17. Januar 1939 wurde Übrig als „Schutzhäftling“ in das KZ Dachau überstellt. Seine Häftlingsnummer war 32015.
Louis ÜBRIG, Karteikarte KZ Dachau. Vermerkt ist (links unten) u.a. sein Fluchtversuch am 23.1.1939, und seine erneute Verhaftung am 6.2.1939. Das Krukenkreuz in der unteren Ecke links für "tot" steht neben dem Tag seiner Erschießung: 11.2.1939
Am Abend des 23. Januar gelang Übrig bei einem Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers die Flucht. Zur Strafe für seine Flucht mussten sämtliche Häftlinge auf Befehl des KZ-Kommandanten Hans Loritz die eisige Winternacht stehend auf dem Appellplatz verbringen, wobei es zu einigen Todesfällen kam. Am 6. Februar 1939 wurde Übrig an der österreichisch-schweizerischen Grenze gefasst. Wahrscheinlich hatte er versucht, im Rheintal in Vorarlberg, dass seit dem Anschluss Österreichs im März 1938 deutsches Reichsgebiet war, über die grüne Grenze in die Schweiz zu gelangen. Er wurde zurück in das KZ Dachau gebracht. Die SS führte ihn wie ein Tier im Triumph durch das Lager.
Sein österreichischer Mithäftling Erwin Gostner beschreibt 1945 in seinen Erinnerungen diese Szene wie folgt: „Seit der Flucht des Häftlings Übrig bin ich wieder jeden Tag auf dem Arbeitsplatz und schufte wie ein Wilder. Die Arbeitsweise ist soweit möglich — noch verschärft worden. Es war nicht bei der Drohung des Lagerkommandanten geblieben, das ganze Lager hatte die Flucht Übrigs abgebüßt. Wehe, wenn sie ihn selbst fingen! Ich kann nicht schlafen, immer wieder schiebt sich das Bild des Flüchtenden vor mein geistiges Auge. […] Da werde ich aus meinen Gedanken durch den Heulton der Lagersirene aufgeschreckt. ,,Alarm!“ Wir springen aus den Betten und fahren in unsere Kleider. Draußen liegt der Appellplatz im grellen Licht der Scheinwerfer. Mit dem dumpfen Dröhnen zehntausender Marschschritte rücken die Blocks aus dem Dunkel der Lagergassen auf den lichtumflossenen Platz. Dort stehen bereits sämtliche SS-Führer des Lagers in blitzenden Uniformen und in aufgeräumter Stimmung. Sie blicken häufig zum Lagertor, als erwarteten sie ein besonderes Ereignis. Eine Stunde stehen wir in dumpfer Ungewißheit dann ist Bewegung dort vorne. Die Scheinwerfer richten ihre Strahlenbündel gegen das Lagertor. Dort hetzt plötzlich ein Mensch durch die Pfosten in den Lichtkegel. Man hat ihm eine große Trommel umgebunden. Mit einem dicken Schlegel schlägt er hohlklingende Wirbel aus dem Kalbsfell. Er eilt durch die Reihen der Zehntausende, als säße ihm der Tod im Nacken. Er trägt wieder die Häftlingstracht wie wir, er blickt weder links noch rechts, seine Augen sind wie irr vor Angst. Ein Alpdruck legt sich auf meine Brust, wie ein Blitz durchschießt mich die Erkenntnis, das ist doch..., ja, es ist Übrig! Nach dieser schaurigen Szene rücken die Blocks, so schweigend wie sie gekommen sind, wieder ein. Sie hat ihren Zweck erfüllt, wir wissen nun, daß ein Entkommen aus den Klauen der SS unmöglich ist"
Nach seiner Ergreifung wurde Übrig gefoltert und misshandelt. Im Lagergefängnis von Dachau („Bunker“) erhielt Louis Übrig 50 Hiebe mit dem Ochsenziemer anstatt der im Strafreglement vorgeschriebenen 25 Hiebe auf den nackten Oberkörper und auf das Gesäß. Schon halbtot, wurde er wenige Tage später in den frühen Morgenstunden des 11. Februar 1939 auf dem SS-Schießplatz Prittlbach bei Dachau erschossen. Um den Mord an Übrig zu vertuschen, gab die Lagerverwaltung von Dachau als Todesursache „Selbstmord“ an. Sein Leichnam wurde eingeäschert.
Nach dem Krieg wurde die Urne von Louis Übrig am KZ Ehrenhain I im Perlacher Forst südöstlich von München beigesetzt.
Recherche: Uwe Brügmann Patenschaft: Uwe Brügmann |
Quellen: Bundesarchiv Berlin, Staatsarchiv St. Gallen Stadtarchiv St. Gallen Stadtarchiv Konstanz, ITS Arolsen Archiv Gedenkstätte KZ Dachau, Staatsarchiv Basel-Stadt Le petit Provençal vom 30. August 1938, Basler Arbeiter Zeitung vom 6.10. und 7.10.1938 Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI), 545-6-1501
Literatur: Gostner, Erwin: 1000 Tage im KZ. Ein Erlebnisbericht aus den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Gusen. Innsbruck: Eigenverlag 1945 Abel, Werner; Hilbert, Enrico: „Sie werden nicht durchkommen“: Deutsche an der Seite der Spanischen Republik und der sozialen Revolution. 2 Bände. Bodenburg: Verlag Edition AV, 2015-2016 Die Schweizer Spanienfreiwilligen. Hrsg. von Peter Huber und Ralph Hug. Biografisches Handbuch. Zürich: Rotpunktverlag, 2009 Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945-48. Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen. Hrsg. Von Ludwig Eiber und Robert Sigel. Göttingen: Wallstein Verlag, 2007 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Band 7) |