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Stolpersteine Konstanz

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Tobias Engelsing: Ansprache zum 75. Jahrestag der Zerstörung der Konstanzer Synagoge

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Liebe Gäste dieser Gedenkstunde,

die Dimensionen des Staatsverbrechens, das vor 75 Jahren in Deutschland statt­fand, wirken auch heute, nach all den Massakern des 20. Jahrhunderts, noch immer erschreckend: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten 267 Synagogen, hunderte jüdische Gemein­de­­häuser und Wohnungen wurden verwüstet. Jüdische Menschen wurden vom Mob durch die Straßen der Dörfer und Städte geschleppt, 400 von ihnen in dieser Nacht ermordet und rund 30.000 in Konzentra­tionslagern eingekerkert. Dort kamen etwa weitere 1000 Opfer durch Misshandlungen zu Tode.

Der staatlich inszenierte Pogrom vom November 1938 zeigte bereits die Symp­tome der Entwicklung, die später zur physischen Vernichtung der deutschen und europäischen Juden führte. Er gilt heute allgemein als Probelauf, der dem NS-Regime signa­lisierte, dass mit entschie­denem öffent­lichen Widerstand gegen die Radikali­sierung der Judenverfolgung nicht zu rechnen war.

Selbstverständlich war es für die meisten Deutschen 1938 noch unvor­stell­bar, dass die Judenverfolgung in einem Völkermord an Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder enden würde. Doch mit der Reichs­pogromnacht 1938 wurde zum ersten Mal die tödliche Eskalationsmöglichkeit der NS-Juden­verfolgung für alle offen sichtbar. Jedem Bürger musste in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und ange­sichts der folgenden öffentlichen Recht­fertigungen der mörderischen Ereignisse klar werden, dass eine vollkommene Umwertung bisher gültiger ethischer Standards und bürgerlicher Werte vollzo­gen worden war: Was zuvor selbstver­ständlich und geboten war, galt nun als anrüchig und wurde sank­tioniert. Dem bedrängten jüdischen Nachbarn Hilfe zu leisten, war verboten. Öffentliche Schmähungen wurden belobigt, der sichtbare Raub jüdischen Eigentums galt als Erfolg der laut verkündeten Ausgren­zungspolitik des Regimes. Die jüdische Bevölkerungs­minderheit hatte die Bot­schaft längst verstanden: „Sogar die Bäume schauten uns anders an! Im Stadtgarten schauten uns die Bäume anders an!“ So beschrieb eine 1938 aus Konstanz geflohene Jüdin das Gefühl der völligen Ausgrenzung und Entrechtung seit 1933.

Am 9. und 10. November 1938 brannte auch die Konstanzer Synagoge in der Sigismundstraße, die seit 1883 in guter Nachbarschaft gegenüber der Dreifaltig­keitskirche gestanden hatte. Die eigent­liche Brandstiftung war das Werk von SS-Männern aus Radolfzell unter Beteiligung hiesiger SA-Mitglieder sowie etlicher Behördenvertreter und einiger Männer der Freiwilligen Feuerwehr Konstanz, die halfen, den Brand anzufachen. Während die Behörden­vertreter durch ihre tatenlose Anwesen­heit während eines Verbrechens den letzten Beweis dafür lieferten, dass der Rechtstaat zerschlagen worden war, verrieten die deutschen Feuerwehren in dieser Nacht vielfach ihren Ehrencodex, jedermann ohne Ansehen der Person in der Not beizustehen. Vielerorts sahen die Feuerwehren nur zu und befolgten das Löschverbot der Parteioberen. An manchen Orten griffen Feuerwehrleute sogar selbst zum Benzinkanister und schürten das Feuer.

Nach der Befreiung vom nationalsozia­listischen Terrorregime wurde in Konstanz zweimal, 1947 und 1962, der unterschied­lich intensive Versuch unternommen, die Geschehnisse dieser Nacht strafrechtlich aufzuarbeiten und die verantwortlichen Täter zu bestrafen. Vor allem 1962 wurden Sachverhalt und mögliche Tatbeteiligte sorgfältig ermittelt. Keiner der Verant­wortlichen musste sich jedoch jemals für seine Straftaten vor einem deutschen Gericht verantworten. Kurz bevor es 1962 zur Anklageerhebung und zu einer Haupt­verhandlung vor dem Landgericht gekom­men wäre, stellte der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe fest, dass die sogenannte Verfolgungs­verjährung eingetreten war und eine weitere Strafverfolgung der mutmaß­lichen Täter rechtlich nicht mehr möglich war. Diejenigen, die den deut­schen Rechtsstaat mit beseitigt hatten, genossen nun den Schutz rechtsstaat­licher Prinzipien in der noch jungen Bundes­republik.

Das alles ist längst bekannt. Dennoch versammeln wir uns heute Abend an einem öffentlichen Ort, um der Vorgänge vor 75 Jahren zu gedenken. Wir begehen diese Gedenkstunde bewusst in einer christlichen Kirche. Denn nicht nur der Verwaltungsapparat, die ideologisierte Polizei, die gleich­geschaltete Justiz und die Kommunal­verwaltungen, sondern auch die beiden christlichen Kirchen haben in den Tagen nach dem 9. November 1938 versagt. Bis auf wenige Einzelstimmen im niederen katholischen Klerus und unter evangelischen Pfarrern blieben die Kirchenoberen stumm.

 

Weder der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber, der sich nach 1945 gerne als Widerstandkämpfer präsentierte, noch der evangelische Landesbischof Julius Kühle­wein in Karlsruhe erhoben das Wort, um gegen Brandstiftung, Raub und Mord zu protestieren. Schlimmer noch, als Adolf Hitler im Jahr darauf dem Attentat des Schreinergesellen Johann Georg Elser knapp entging, erreichten ihn hymnische Grußadressen aus dem hohen Klerus und von den Spitzen der evangelischen Landes­kirchen.

Für jüngere Menschen, die keinen unmit­telbaren familiären Bezug mehr zur Zeit des Nationalsozialismus haben, sind diese Ereignisse so fern wie das Konstanzer Konzil. Der in Wien aufge­wachsene, selbst emigrierte englische Historiker Eric Hobsbawm hat gegen Ende seines Lebens resigniert festge­stellt, die meisten jungen Menschen wüchsen heute in einer Art „permanen­ter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangen­heit ihrer eigenen Lebenszeit“ fehlte.

Wer aber keinen eigenen Bezug mehr zur historischen Dimension der so blutig erkämpften Kernnormen unseres demo­kratischen Grundkonsenses – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – hat und diesen Bezug in der augenblicks­verliebten Mediendemokratie auch kaum noch vermittelt bekommt, könnte anfällig werden für die Vorstellung, dass diese Normen nicht mehr so wichtig seien.

Diesen Bezug stellen wir allerdings auch nicht her, indem wir Nachgeborenen uns als Inhaber des guten Gewissens aufspielen, die im Kampf gegen die Nazis von gestern heute mutig in der ersten Reihe stehen. Denn keiner von uns kann wissen, wie er sich in seinem beruflichen Umfeld, in der eigenen Nachbarschaft, im Verein und in der eigenen Familie verhalten hätte. Gerade weil wir uns nicht sicher sein können, ob wir heute gefeit wären, gegen die Verlockungen der Macht, der persön­lichen Bereicherung, des Karriereauf­stiegs, sollten wir fragend an die Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern erinnern.

Denn die Frage stellt sich: Wie haben sich unsere eigenen Vorfahren im November 1938 verhalten? Nahmen sie in SA-Uniform teil, schwiegen sie in passiver Komplizen­schaft oder in „verlegener Distanz“ zu den Staats­verbrechen, erhoben sie gar leisen Protest oder halfen sie dem jüdischen Nachbarn?  

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir einräumen: In vielen Familien ist bis heute nicht geklärt, in welchem Maße z.B. der Großvater von der Verdrängung der jüdischen Konkurrenz profitiert hat, oder Großmutter  auch zugegriffen hat, als in so genannten „Judengut-Auktio­nen“ das Eigentum der Deportierten verschleudert wurde. Millionen Deutsche wurden zu Nutznießern des Raubzugs gegen die europäischen Juden. Aber wen immer Sie heute fragen: alle waren „eigentlich“ im Widerstand gegen Hitler.

Wir kennen allerdings auch in dieser Stadt einige Menschen, die Hilfe für Verfolgte leisteten: als Fluchthelfer über die deutsch-schweizerische Grenze, im Behördenapparat oder als Nachbarn. Sie zeigten praktische Zivilcourage, diese schönste Tugend in Zeiten der Unter­drückung. Auch an diese Wenigen wäre zu erinnern, wenn wir nur mehr von ihnen wüssten. Sie wären Vorbilder, die jungen Menschen zu allen Zeiten in der eigenen Entwicklung hilfreich sein können.

Deshalb bleibt auch jedes Forschen, Gedenken und Erinnern aktuell, ob mit Stolpersteinen, lokalen Quellenstudien, Ausstellungen oder in engagiert erteiltem Schulunterricht!

An einem Tag des Gedenkens und Erinnerns ist es auch sinnvoll, einen Blick auf die Gegenwart zu werfen, ohne in unangemessene Analogien zu verfallen:

Die Deutschen sind einigermaßen gute Demokraten geworden. Aber erweisen wir uns auch als ausreichend couragiert und großherzig, den Verfolgten und Flüchtlingen unserer Tage Aufnahme und Schutz zu gewähren? Treten wir im eigenen Land und im Kontakt mit befreundeten Staaten entschieden genug für die allgemeinen Freiheits­rechte ein - nicht nur, wenn das Handy unserer Kanzlerin abgehört wird? Und schließlich: beachten wir in unserem eigenen Konsumverhalten wirklich die unteilbaren Menschenrechte etwa von ausgebeuteten Arbeitssklaven in den Schwellenländern dieser Welt?  

Die Stimmen der Zeit vor 75 Jahren, die wir jetzt sprechen lassen, und die mit Bedacht ausgewählte Musik des heutigen Abends verweisen auf die zeitlos gültigen Grundnormen der demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft, für die sich jede Generation neu und engagiert einsetzen muss: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität.

8.11.2013

 

Alle Rechte bei:

Dr. Tobias Engelsing

Direktor der Städtischen Museen

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